Die Ableitung einer Funktion beschreibt die Veränderung jenes Prozesses, der von der Funktion dargestellt wird. Das hört sich immer so theoretisch an, ist es aber nicht. In der Praxis bestätigt die Ableitung scheinbar wirre Formeln und lässt Blicke in ungedachte Tiefen zu.
Was wurden wir in der Sekundarstufe 2 mit Ableitungen gequält. Exponent mal Koeffizient und dann den Exponenten um 1 reduzieren. Da hat man eine Funktion, die einem niemand richtig erklärt und baut daraus eine Ableitung, von der man dann gar nichts mehr weiß. Das ist wenig motivierend. Was macht eine Ableitung eigentlich?
Stellt euch eine Funktion vor, die die Temperatur an einem Tag darstellt. Auf der x-Achse ist die Uhrzeit eingetragen, auf der y-Achse die gemessene Temperatur zu jeder möglichen Uhrzeit. Nachts wird die Temperatur in unseren Breitengeraden niedriger sein als am Mittag und gegen Spätabend sinken die Temperaturen wieder. Fangen wir mit den Messungen um 3 Uhr nachts an, wird die Kurve gemächlich steigen bis die Sonne wieder untergeht, dann geht die Temperatur auch nach unten. Es entsteht eine hübsche Buckelkurve.
Wenn wir die Temperatur im Keller des Louvres messen würden, dort, wo der Urmeter herumliegt, dann wäre die Temperatur zu jeder Tages- und Nachtzeit dieselbe. Der Graph wäre ein waagerechter Strich, kein Auf, kein Ab.
Jetzt ist es nicht schwer zu erkennen, dass es im Louvre keine Veränderung der Temperatur gibt, in unserem ersten Beispiel aber schon. Dort muss die Funktion unterschiedliche Höhen und Tiefen erreichen, sie steigt und fällt. Genau dieses Steigen und Fallen zeigt aber, dass sich bei der Temperatur Veränderungen ergeben. Je steiler der Verlauf der Kurve, desto schneller steigt die Temperatur. Und genau diese Veränderung verrät uns die Ableitung. Zu jedem Zeitpunkt können wir eine gerade Linie so an die Kurve legen, dass sie genau einen Berührpunkt mit ihr hat. Solche Linien nennt man Tangenten. Und wie bei allen Linien kann man natürlich berechnen, wie steil die Linie nach oben oder unten geht. Diese Steilheit liefert uns die Ableitung. Ableitung = Veränderung.
Die Kugel
Jetzt kann man natürlich (fast) alle denkbaren Funktionen ableiten, auch solche, die auf den ersten Blick gar keine zu sein scheinen. Etwa die Formel zur Berechnung der Kugel.
Wenn man die Volumina über alle möglichen Radien als Funktion darstellen möchte, schreibt man:
Jetzt haben wir eine Funktion, die man ableiten kann. Was aber beschreibt uns die Ableitung? Es müsste die Veränderung des Volumens sein. Wie aber verändere ich das Volumen einer Kugel? Wäre die Kugel ein Ballon, könnten wir ihn einfach aufblasen. Das neue Volumen minus das Originalvolumen stellte dann die Veränderung des Originalvolumens dar. Dieses Aufblasen denken wir uns nun im sehr, sehr Kleinen. Schon eine einzige Schicht Atome rund um die Kugel gelegt, verändert dann das Volumen geringst. Stellt man sich aber die dünnst mögliche Schicht vor, dann entspricht das quasi der Oberfläche der Kugel. Leiten wir also ab
Und tatsächlich kommt die Oberflächenformel der Kugel heraus! Mit einer winzigen Schicht rund um die Kugel kann ich also das Volumen verändern. Kann ich auch den Umfang verändern? Wenn ja, müsste erneut die Ableitung mir zeigen, was dabei entsteht:
Das Ergebnis ist interessant. 4 Kreisumfänge sollen eine Kugeloberfläche verändern. Im Dreidimensionalen ist das schwer konstruierbar. Wo sollen vier Umfänge an der Kugeloberfläche, sinnvollerweise in regelmäßigen, Abständen angeordnet werden. Der Witz ist hier, dass wir in die richtige Dimension springen. Die Oberfläche ist ein „Fläche“, so sagt der Name ja schon. Und die hat 2 Dimensionen. Betrachtet man die Oberflächenformel der Kugel, so steht da aber, dass die Veränderung aus 4 Kreisscheiben besteht. Soll diese Fläche verändert werden, müssten wir an vier Kreisen die Fläche verändern, aber genau das tun wir ja, wenn wir viermal den Umfang verändern, das ist alles.
Der Würfel
Der Würfel ist gegenüber der Kugel eine Fingerübung. Das Volumen a³ wird abgeleitet zu 3a² und noch einmal abgeleitet zu 6a. Stellt euch einen Würfel vor. Ihr verändert sein Volumen, in dem ihr in allen drei Raumdimensionen eine winzige Schicht an den Würfel packt. Bei drei Dimensionen wären das aber genau 3 Quadrate, die ergänzt werden müssten (3a²).
Die Fläche eines Quadrats wiederum ist ein zweidimensionales Objekt. Eine Flächenveränderung muss also eine Erweiterung in 2 Dimensionen sein. Bei einem Quadrat würde die Länge und die Breite winzigst erweitert, das machen wir mit 2 Seitenkanten. Bei 3 Quadraten brauchen wir insgesamt 6 Seitenkanten (6a).
Der Torus
Werfen wir abschließend einen Blick auf einen Torus, ein dreidimensionaler Ring mit kreisförmiger Schnittfläche. Sein Volumen hängt von 2 Größen ab. Da ist einerseits die Dicke des Torus‘, die natürlich in Abhängigkeit von Radius r ist. Schneidet man den Torus in winzigst schmale Kreisscheiben, müssen diese noch um einen Mittelpunkt kreisförmig angeordnet werden. Der Abstand der Scheiben vom Mittelpunkt ist R. Je größer R, desto weiter sind die Scheiben vom Mittelpunkt entfernt und je größer wird das Volumen.
Ein Blick in die Formelsammlung erstaunt ein wenig:
Hier ist das „Vereinfachungs-Problem“, das in der Schule betrieben wird, schön zu erkennen. „Vereinfacht die Formel so weit wie möglich“, eine der dümmsten Aufgabestellungen, die es gibt. „Vereinfacht die Formel so sinnvoll wie möglich“ wäre eine bessere Alternative. Wir „verkomplizieren“ die Formel ein wenig und erhalten:
Dadurch erkennt man, dass die Schnittfläche des Torus‘ mit dem Umfang des Kreises multipliziert wird, auf dem der Torus um M liegt. Eine Fläche mal eine Länge, da sind wir beim Volumen.
Das leiten wir nach r ab, um zu sehen, was denn die Veränderung des Volumens ist.
Den ersten Teil der Ableitung kann man nun wieder lesen wie ein Buch. Der Umfang des Torus‘ multipliziert mit dem Umfang der Kreisbahn, auf der der Torus angeordnet ist. Das ergibt Sinn, denn infinitesimal gedacht multiplizieren wir winzigste Umfänge (so kleine Flächen, dass sie schon als Linie angesehen werden können) mit der Länge des Torus. Länge mal Länge ergibt Fläche. Und wieder ergibt die Ableitung einen Blick in den geometrischen Zusammenhang, aus dem die Formel rausgezogen wurde.
Der Einheiten-Trick
Mit einem kleinen Trick könnt ihr über die Einheiten, die für die Funktionen wichtig sind, bereits herausfinden, in welcher Einheit die Ableitung ihre Ergebnisse darstellt. Nehmt da Kugelbeispiel. Das Volumen soll in Abhängigkeit vom Radius dargestellt werden. Dann wird die Länge des Radius‘ auf der x-Achse abgetragen und die Größe des Volumens auf der y-Achse. Die Einheiten sind Kubikmeter auf der y-Achse und Meter auf der x-Achse. Teilt die Einheit der y-Achse durch die Einheit der x-Achse und schon habt ihr die Einheit der Werte aus der Ableitung. Hier: Kubikmeter/Meter = Quadratmeter.
Wenn Ihr ein Weg-Zeit-Diagramm nehmt, dann ist die Zeit auf der x-Achse und der Weg auf der y-Achse eingetragen. Teilen: Weg/Zeit=Geschwindigkeit. Und tatsächlich, ihr könnt den zurückgelegten Weg nur verändern, wenn ihr eine Geschwindigkeit annehmt. Steht ihr still, bleibt der zurückgelegte Weg gleich, keine Veränderung.
Auch beim Geschwindigkeits-Zeit-Diagramm klappt das prima. Denn die Geschwindigkeit kann nur verändert werden, wenn ihr euch beschleunigt (positiv oder negativ). Geschwindigkeit (y-Achse) durch Zeit (x-Achse) ist aber die Strecke durch das Quadrat der Zeit und das gibt euch der Einheitencheck auch an.
Und jetzt wisst ihr auch, was die Beschleunigung verändert! Nämlich die Strecke dividiert durch die Zeit hoch 3. Hmm, was das nun genau ist, stelle ich als Hausaufgabe. Viel Spaß!
Jürgen
Alles viel zu umständlich.
Ich verändere die Beschleunigung, indem ich mehr oder weniger Gas gebe.