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Praktisch 0: Infinitesimale Veränderungen

Infinitesimale Veränderungen. Handgemalt mit Photoshop von Joe Freiburg. Veröffentlicht auf www.geilemathe.de

Im richtigen Leben wird gerne aus Tatsachen abgeleitet, quasi schlussgefolgert. In der Mathematik auch. Je nach Schulsystem leitet man in der 10. oder 11. Klasse Funktionen ab. Man tut das halt, aber wie unfassbar großartig das sein kann, das zeigt geilemathe hier.

Die Infinitesimalrechnung ist sozusagen ein Kind von Gottfried Wilhelm Leibniz. Gut Isaac Newton hatte zeitgleich dieselben Überlegungen, ich stehe aber eher auf Leibniz, weil ich Newton grundsätzlich heute für überschätz halte. Er gilt als Art goldenes Kalb der Physik und bremst meiner Meinung nach die Entwicklung aus. Wehe, es bäumt sich jemand gegen Newton auf, huuuu, Frevel und so weiter. Aber Einstein zeigte vor rund 100 Jahren, dass man  nur wirklich weiterkommt, wenn man alles Bestehende mal grundsätzlich in Frage stellt und neu zu denken beginnt. Also, Herr Newton, das ist nichts Persönliches!

Leibniz versuchte Funktionen in unendlich kleinen Bereichen zu beschreiben.  Wir kennen das Beschreiben der Funktion als Diferentialrechnung und das Hauptwerkzeug ist das Ableiten. Wenn man das ganze – zugegeben sehr spannende – Theater mit Differenzenquotenten und Grenzwertbildung einmal an die Seite legt, bleibt eine sehr simple Rechenregel, die uns zu äußerst spannenden Ergebnissen führen kann.

Eine Funktion  stellt eine Beschreibung eines beliebigen Prozesses aus der Wirklichkeit dar. Steigen wir beispielsweise in das Cockpit eines Fernfahrer-LKW, dann finden wir dort einen Fahrtenschreiber. Wenn der LKW fährt, zeichnet das Gerät permanent die Geschwindigkeit des Fahrzeugs zu der entsprechenden Zeit auf. Das kann man als hübsche Kurve in ein Koordinatensystem zeichnen.  Die Ableitung dieser Funktion würde uns die Steigung – oder viel besser: die Veränderung – der Kurve ebenfalls als Kurve darstellen. Wie muss man sich ohne Mathematik vorstellen?

Stellt euch vor, der LKW steht auf einem Rastplatz. Seine Geschwindigkeit ist 0 und da er da steht, verändert sich diese auch nicht. Die Veränderung ist demnach 0. Jetzt fährt der LKW los, es geht auf den Beschleunigungsstreifen und dann auf die Autobahn. Der Fahrer erhöht die Geschwindigkeit seines LKWs. Er verändert die Geschwindigkeit, indem er sie erhöht. Die Ableitung ist über der x-Achse im Positiven, das Tempo nimmt ja zu. Nun ist er auf Reisegeschwindigkeit, schaltet seinen Tempomaten ein und bleibt auf konstanten 90 km/h. Die Geschwindigkeit verändert sich in diesem Bereich nicht, die Ableitung klebt auf der x-Achse bei 0 (=keine Veränderung). Jetzt überholt den LKW irgendsoein neureicher Vollpfosten in Papas Maserati (um das gleich richtig zu stellen, ich liebe Maseratis!!) und schert knapp vor dem LKW ein, der Fahrer muss auf die Bremse drücken. Er reduziert seine Geschwindigkeit und da die weniger wird, ist die Ableitung unter der x-Achse in Minus-Bereich. Merkt Ihr, dass Ihr anhand dieser beiden Kurve fast die Geschchte der Fahrt nacherzählen könntet? Einfach, weil Ihr zwei Kurven seht und deren Bedeutung kennt!

Damit wird die Ableitung/Veränderung sehr fassbar. Wenn ich die Aufzeichnung einer Geschwindigkeit ableite, erhalte ich die Aufzeichnung der Beschleunigung, denn wenn ich meine Geschwindigkeit verändere, dann muss ich entweder beschleunigen oder abbremsen. Wenn Ihr ein wenig mit Einheiten aus der Physik umgehen könnt, nutzt den simplen Einheitentrick aus dem Koordinatensystem. Egal, was da abgebildet ist, würdet ihr es ableiten, käme die Größe heraus, die sich durch das Teilen der Einheit auf der y-Achse durch das Teilen der Einheit auf der x-Achse ergibt. Im Beispiel oben war die Geschwindigkeit m/s auf der y-Achse und die Zeit s auf der x-Achse eingetragen. Die Ableitung / Veränderung dieser Kurve gibt euch als etwas zurück, dass durch Meterpro Sekunde geteilt durch  Sekunde dargestellt wird, das ist aber Meter pro Sekundequadrat und das ist die Einheit der Beschleunigung.

Und jetzt kommt mein Lieblingsthema: Wildes Ableiten von allem möglichen, weil das über die Mathematik zu interessanten Erkenntnissen führt. Eine Kugel zum Beispiel. Das Volumen berechnen wir durch 4 Drittel mal PI mal Radius hoch 3. Wenn wir das ableiteten, müssten wir eigentlich die Veränderung des Kugelvolumens herausbekommen, das war ja die Idee der Ableitung. Schauen wir mal: Der Exponent wird vorne multipliziert und über den r um 1 vermindert: 3 mal 4 Drittel mal PI mal Radius hoch 2. Die 3 kürzen wir gegen die Drittel, es bleibt 4 mal PI mal Radius zum Quadrat. Das kennen wir aber als Oberfläche der Kugel! Die Veränderung des Volumens ist die Oberfläche?? Das ist sie in der Tat! Es geht ja um winzig kleine Veränderungen. Stellt euch vor, Ihr vergrößert das Volumen einer Kugel um eine Winzigkeit. Das könnte man mit einer Farbdose machen. Wir sprühen eine sehr dünne Schicht Farbe regelmäßig auf die Kugel. An jeder Stelle wird die Kugel etwas dicker, Ihr Volumen ist gewachsen. Genau um die Schicht Farbe, die ja die Veränderung darstellt. Und diese Schicht – ganz dünn betrachtet – ist die Oberfläche der Kugel.

Ich vermute, das war vielen nicht präsent. Erst durch Anwendung einer mathematischen Idee (Ableitung ist die Veränderung des Zustandes) und durch Anwendung der Rechenregel auf die Formel des Kugelvolumens bleibt plötzlich die Oberflächenformel übrig. Dann kommt das Wundern, dann das Verstehen und dann das großartige Gefühl, etwas entdeckt zu haben.

Probiert das mal mit einem Würfel. Dann legt die Mathematik noch einen drauf. Denn entgegen der Erwartungen, dass sich das Volumen des Würfels ändert, in dem ich alle 6 Seiten einen Ticken dicker mache, zeigt und das Ableiten, dass es reicht 3 der Seiten zu verdicken, vorne oder hinten, oben oder unten, links oder rechts. Das Ableiten ist auch noch effizient und gibt uns völlig neue Erkenntnisse.

Dieses Thema wird uns noch häufiger beschäftigen. Wer jetzt schon Lust hat, weiterzudenken: Wenn ich nicht ab- sondern aufleite, dann müsste ich ja einen Prozess generieren, deren Veränderung ich gerade vor der Nase habe. Jetzt leitet mal in Gedanken das Volumen einer Kugel auf! Dann entpuppt sich die dreidimensionale Kugel als Veränderung des Dimensionsvolumens einer vierdimensionalen Kugel! Dass lasst euch auf den Synapsen zergehen, viel Spass dabei!

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